Schenkökonomie – jenseits von Geld und Grenzen

Dominiert von wirtschaftlichen Transaktionen und Kapitalismus, gewinnt das Konzept der Schenkökonomie immer mehr an Bedeutung. Diese Form des wirtschaftlichen Austauschs, bei der Güter und Dienstleistungen ohne Erwartung einer unmittelbaren Gegenleistung verschenkt werden, stellt eine faszinierende Alternative zu traditionellen Marktmodellen und auch zu Tauschgeschäften dar. Die Theorien von Adam Grant, einem renommierten Organisationspsychologen, bieten wertvolle Einblicke in die Dynamik der Schenkökonomie und ihre Auswirkungen auf Individuen und Gemeinschaften.

Grundlagen der Schenkökonomie

Die Schenkökonomie basiert auf dem Prinzip der Großzügigkeit und Freigiebigkeit. Im Gegensatz zur Tauschökonomie, wo Güter und Dienstleistungen gegen Bezahlung oder andere Güter getauscht werden, werden in der Schenkökonomie Ressourcen ohne unmittelbare Gegenleistung verteilt. Diese Form des Austauschs ist in vielen traditionellen und indigenen Gesellschaften tief verwurzelt und fördert das Gemeinschaftsgefühl und verbindet.

Adam Grants Perspektive: Geben und Nehmen

Adam Grant, Autor des Buches „Give and Take“, unterscheidet in seinen Theorien zwischen Gebenden (Givers), Nehmenden (Takers) und Ausgleichenden (Matchers). Diese Kategorien sind entscheidend für das Verständnis der Schenkökonomie:

  1. Gebende (Givers): Gebende neigen dazu, großzügig und uneigennützig zu handeln. Sie investieren Zeit, Energie und Ressourcen, um anderen zu helfen, ohne eine direkte Gegenleistung zu erwarten. In der Schenkökonomie spielen Gebende eine zentrale Rolle, da ihre Handlungen das System am Laufen halten und Vertrauen sowie Zusammenarbeit fördern.
  2. Nehmende (Takers): Nehmende fokussieren sich auf ihren eigenen Vorteil und versuchen, so viel wie möglich aus Interaktionen herauszuholen. In einer Schenkökonomie kann das Verhalten von Nehmenden problematisch sein, da es das Gleichgewicht des Systems stören und das Vertrauen unter den Beteiligten untergraben kann.
  3. Ausgleichende (Matchers): Ausgleichende balancieren zwischen Geben und Nehmen. Sie tendieren dazu, im Austausch zu handeln und erwarten eine Gegenleistung für ihre Großzügigkeit. In der Schenkökonomie können Ausgleichende als Vermittler fungieren, die das System stabilisieren.

Die Vorteile der Schenkökonomie

Die Schenkökonomie bietet zahlreiche Vorteile, die über den reinen materiellen Austausch hinausgehen:

  • Soziale Bindungen: Das Schenken stärkt die Gemeinschaft und fördert das Gefühl der Zugehörigkeit. Es schafft soziale Netze, die in Zeiten der Not unterstützend wirken können.
  • Vertrauen und Kooperation: Regelmäßiges Schenken fördert Vertrauen und Kooperation unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Dieses Vertrauen ist die Grundlage für stabile und nachhaltige soziale Beziehungen.
  • Kreativität und Innovation: Eine Kultur des Schenkens kann Kreativität und Innovation fördern, da sie ein Umfeld schafft, in dem Menschen ihre Ideen und Ressourcen frei teilen können, ohne Angst vor Verlusten.

Unser Versuchsprojekt beim letzten Repair Café war ebenfalls erhellend. Da bei einigen die Flickkörbe bereits geleert sind, haben wir das Angebot erweitert. Jeder konnte Überflüssiges aus dem Kleiderschrank mitbringen zum Verschenken. So bekamen Kleidungsstücke, die ihren Dienst getan hatten, eine neue Chance jemandem Freude zu bereiten. Schenken ist damit auch eine Form von Upcycling und zwar ganz ohne Energieeinsatz.

Herausforderungen und Kritik

Schenkökonomie in diesem Sinne hat übrigens nichts zu tun mit Geschenken, die beispielsweise zu bestimmten Gelegenheiten erwartet und gegeben werden. Das Problem: Viele dieser Geschenke erfreuen den Beschenkten gar nicht und können sogar zur Belastung werden – sowohl für den Schenkenden als auch den Beschenkten.

Beispiele für Schenkökonomie

Die Schenkökonomie findet sich in verschiedenen Kulturen und Kontexten weltweit. Hier sind einige bekannte Beispiele, die das Konzept in der Praxis veranschaulichen:

Potluck

Bei einem Potluck bringen jeder Gast etwas für gemeinsame Buffet mit, das dann mit allen geteilt wird. Das internationale Picknick im Lindenhofpark war nach diesem Prinzip organisiert. Auf der Freitreppe vor den Friedensräumen teilten 120 Gäste Essen, Musik und gute Gespräche.

Hier eine regelmäßige Potluck-Idee aus Linz: https://veggieslinz.at/veggies-aktiv/veganes-potluck

Kostnix- und Umsonstläden

Kostnixläden oder Umsonstläden sind Orte, an denen Menschen Gegenstände kostenlos abgeben und mitnehmen können. Sie fördern die Wiederverwendung von Ressourcen und reduzieren Konsum und Abfall. Sie sind nicht nur in großen Städten zu finden, sondern beispielsweise gleich um die Ecke in Hard:

Open-Source-Software

Die Entwicklung und Verteilung von Open-Source-Software ist ein weiteres Beispiel für die Schenkökonomie. Entwickler weltweit tragen freiwillig zu Projekten bei und stellen ihre Arbeit der Allgemeinheit kostenlos zur Verfügung. Bekannte Open-Source-Projekte wie Linux, Apache und Mozilla Firefox basieren auf diesem Prinzip und haben die Technologiebranche revolutioniert.

Food Sharing Initiativen

Food Sharing Initiativen, wie sie in vielen europäischen Städten existieren, basieren auf der Idee, überschüssige Lebensmittel zu teilen, anstatt sie wegzuwerfen. Freiwillige sammeln Lebensmittel von Supermärkten, Restaurants und privaten Haushalten und verteilen sie kostenlos an Bedürftige. Dies reduziert Lebensmittelverschwendung und fördert Solidarität und Gemeinschaftssinn.

https://foodsharing.at/

Guerilla Gardening und Stadtgärtnern

Guerilla Gardening ist eine Bewegung, bei der Menschen ungenutzte städtische Flächen ohne offizielle Erlaubnis bepflanzen. Die Ernte wird oft mit der Gemeinschaft geteilt, und die Aktionen zielen darauf ab, das Stadtbild zu verschönern und das Bewusstsein für Umweltschutz zu fördern. Wenn man die Behörden mit ins Boot holen kann, umso besser. Wenn ein überzeugendes Konzept vorgelegt wird, kann man durchaus mit Unterstützung in Form von Saatgut, Pflanzen, Gartengeräten oder auch Wasser rechnen.

https://www.bzfe.de/nachhaltiger-konsum/staedte-essbar-machen/urban-gardening-so-funktionierts

The Freecycle Network

The Freecycle Network ist eine globale Bewegung, die darauf abzielt, ungenutzte Gegenstände vor der Müllkippe zu bewahren, indem sie in lokalen Gemeinschaften kostenlos angeboten und abgeholt werden können. Mitglieder können Gegenstände posten, die sie verschenken möchten, und andere Mitglieder können diese Gegenstände kostenlos abholen. Dies fördert Recycling und die Wiederverwendung von Ressourcen.

https://www.freecycle.org

Couchsurfing

Couchsurfing ist eine Plattform, die Reisenden kostenlose Übernachtungsmöglichkeiten bei Gastgebern auf der ganzen Welt bietet. Gastgeber bieten ihre Couch oder ein Zimmer an und erwarten im Gegenzug keine Bezahlung, sondern die Möglichkeit, kulturellen Austausch zu erleben und neue Freundschaften zu schließen. Diese Form der Gastfreundschaft fördert den interkulturellen Dialog und stärkt die globale Gemeinschaft.

https://blog.couchsurfing.com

Offene Bücherschränke

Immer mehr private und öffentliche „Offene Bücherschränke“ bieten Bücher zum Tausch oder zur Mitnahme an, ganz unkompliziert und ohne Formalitäten. Einfach öffnen, schmökern, mitnehmen oder tauschen. Die Schränke sind 365 Tage im Jahr für 24 Stunden geöffnet. Einer davon ist auch bei mir am Eselstall untergebracht und enthält vor allem klassische Literatur, neuzeitliche Romane und einige Sachbücher.

https://stadtbuecherei.bregenz.at/unser-angebot/offene-buecherschraenke

Ubuntu-Prinzip

Das Ubuntu-Prinzip, das besonders in südafrikanischen Kulturen tief verwurzelt ist, betont die Bedeutung von Gemeinschaft und gegenseitigem Geben. Ubuntu, das „Ich bin, weil wir sind“ bedeutet, fördert eine Kultur des Gebens, Teilens und der gegenseitigen Unterstützung in vielen afrikanischen Gesellschaften.

Ein Beispiel für die Anwendung der Ubuntu-Philosophie wäre ein Dorf in Südafrika, in dem die Gemeinschaft zusammenkommt, um einem Nachbarn beim Bau eines neuen Hauses zu helfen. Alle Dorfbewohner tragen freiwillig bei, sei es durch Arbeitskraft, Materialien oder Verpflegung. Sie tun dies nicht aus finanziellen Interessen, sondern aus einem Gefühl der gemeinsamen Verantwortung und des gegenseitigen Respekts. Der Gedanke dahinter ist, dass jeder Einzelne von der Unterstützung der Gemeinschaft profitieren kann und somit ein starkes, harmonisches soziales Gefüge entsteht.

Food Not Bombs

Food Not Bombs ist eine globale Bewegung, die überschüssige oder gerettete Lebensmittel sammelt und kostenlos an Bedürftige verteilt. Freiwillige kochen und servieren Mahlzeiten in öffentlichen Räumen, um auf Lebensmittelverschwendung und soziale Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen.

http://foodnotbombs.net/new_site/

Gemeinschaftskühlschränke

Gemeinschaftskühlschränke sind öffentliche Kühlschränke, in denen Menschen überschüssige Lebensmittel hinterlassen oder abholen können. Diese Initiativen fördern Solidarität und den Kampf gegen Lebensmittelverschwendung auf lokaler Ebene. Einer davon ist beispielsweise in Lochau im Brockenhaus zu finden.

Schenkökonomie - Gemeinschaftskühlschränke

Diese Beispiele zeigen die Vielfalt und das Potenzial der Schenkökonomie, soziale Bindungen zu stärken, Ressourcen effizient zu nutzen und Gemeinschaften zu fördern. Sie illustrieren, wie verschiedene Kulturen und Gemeinschaften das Prinzip des Schenkens in ihren Alltag integrieren und davon profitieren können.

Fragen zur Selbstreflexion

Diese Fragen sollen Ihnen helfen, tiefer über die Konzepte der Schenkökonomie nachzudenken und deren Bedeutung in Ihrem eigenen Leben und Ihrer Gemeinschaft zu reflektieren.

Persönliche Reflexion

  1. Haben Sie schon einmal an einer Form der Schenkökonomie teilgenommen, wie z.B. einem Potluck oder einer Food Sharing Initiative? Wie war Ihre Erfahrung?
  2. In welcher Rolle sehen Sie sich selbst in sozialen Interaktionen: als Gebender (Giver), Nehmender (Taker) oder Ausgleichender (Matcher)? Warum?
  3. Was bedeutet Großzügigkeit für Sie persönlich und wie drückt sich das in Ihrem täglichen Leben aus?

Soziale Bindungen und Gemeinschaft

  1. Wie hat die Teilnahme an gemeinschaftlichen Projekten oder Initiativen Ihre Sicht auf soziale Bindungen und Vertrauen verändert?
  2. Welche Vorteile sehen Sie in der Förderung von Vertrauen und Kooperation durch Schenken in Ihrer eigenen Gemeinschaft?

Kreativität und Innovation

  1. Haben Sie in Ihrem Umfeld Beispiele dafür gesehen, wie eine Kultur des Schenkens Kreativität und Innovation fördert?
  2. Inwiefern denken Sie, dass die Schenkökonomie dazu beitragen kann, kreative Lösungen für soziale und ökologische Probleme zu finden?

Herausforderungen und Kritik

  1. Welche Herausforderungen sehen Sie in der Umsetzung der Schenkökonomie in modernen Gesellschaften?
  2. Wie kann man sicherstellen, dass die Schenkökonomie nicht von Nehmenden (Takers) ausgenutzt wird und das System dadurch destabilisiert?

Praktische Beispiele

  1. Kennen Sie lokale Initiativen oder Projekte, die auf dem Prinzip der Schenkökonomie basieren? Wie können Sie sich dort einbringen oder sie unterstützen?
  2. Welche der im Artikel genannten Beispiele für die Schenkökonomie finden Sie besonders inspirierend und warum?

Persönlicher Beitrag

  1. Was könnten Sie persönlich tun, um die Prinzipien der Schenkökonomie in Ihrem Alltag oder Ihrer Gemeinschaft zu fördern?
  2. Wie könnte eine verstärkte Anwendung der Schenkökonomie in Ihrem Umfeld die Gemeinschaft und die soziale Gerechtigkeit verbessern?

Literatur

Grant, A. (2013). Give and Take: A Revolutionary Approach to Success. New York: Viking.

Mauss, M. (1990). Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.