Eigensinn – die kostbare Tugend

In einer Zeit, in der Konformität und Gehorsam als löbliche Tugenden gepriesen werden, hebt sich der Eigensinn als eine selten anerkannte, aber tiefgründige Tugend hervor. Diese Tugend, die als Gehorsam gegenüber dem eigenen inneren Gesetz verstanden wird, stellt einen radikalen Kontrast zu den von Menschen geschaffenen Gesetzen dar. Während konventionelle Tugenden Gehorsam gegenüber externen Regeln erfordern, basiert der Eigensinn auf dem treuen Folgen des inneren Kompasses.

Eigensinn - innerer Kompass

Die Natur des Eigensinns

Eigensinn bedeutet, einen eigenen Sinn zu haben und nach diesem zu leben. Alles in der Natur, vom kleinsten Stein bis zur prächtigsten Blume, folgt seinem eigenen inneren Gesetz. Diese innere Gesetzmäßigkeit macht die Welt vielfältig und schön. Menschen und ihre domestizierten Tiere sind die einzigen Wesen, die oft gezwungen sind, fremden, künstlichen Regeln zu folgen, anstatt ihrem natürlichen inneren Ruf zu gehorchen.

Eigensinn versus Gesellschaft

In der Gesellschaft wird Eigensinn oft als Laster oder unerwünschte Eigenart betrachtet. Nur in wenigen Fällen, wie bei Künstlern oder exzentrischen Persönlichkeiten, wird der Eigensinn als Originalität akzeptiert. Doch auch diese Akzeptanz ist begrenzt und gilt nur, solange der Eigensinn keinen Schaden für Kapital und Gesellschaft anrichtet.

Die meisten Menschen, die als charakterstark oder starke Persönlichkeiten bezeichnet werden, zeigen ihre eigenen Ansichten nur subtil, ohne wirklich nach ihnen zu leben. Ein wahrer Charakter, der nach seinen eigenen Vorstellungen lebt, wird oft nicht als tugendhaft angesehen, sondern als eigensinnig abgetan.

Die Helden des Eigensinns

Historisch gesehen, waren es oft die eigensinnigen Individuen, die gegen die herkömmlichen Gesetze verstießen und ihren eigenen Weg gingen, die später als Helden und Befreier gefeiert wurden. Sokrates, Jesus und Giordano Bruno sind Beispiele für solche tragischen Helden. Sie folgten ihrem eigenen inneren Gesetz, selbst auf die Gefahr hin, verurteilt oder getötet zu werden. Ihr Mut und ihre Treue gegenüber ihrem eigenen Sinn eröffneten der Menschheit neue Wege der Erkenntnis.

Das Tragische, ein oft missbrauchter Begriff, beschreibt genau dieses Schicksal eines Helden, der für seine Treue zum eigenen Stern zugrunde geht. Dieser Mut, gegen die hergebrachten Gesetze zu verstoßen, ist keine willkürliche Rebellion, sondern eine tiefere Treue zu einem höheren, heiligeren Gesetz.

Eigensinn und der moderne Mensch

In der heutigen Zeit wird der Begriff des Heldentums oft verzerrt. Soldaten, die im Krieg fallen, werden als Helden bezeichnet, obwohl ihr Tod oft das Ergebnis von Gehorsam gegenüber militärischen Befehlen ist. Echter Heroismus, so wie er durch den Eigensinn definiert wird, ist etwas, das nur der Einzelne, der seinem eigenen Sinn folgt, erreichen kann.

Ein Mensch, der seinen eigenen Eigensinn entdeckt und ihm folgt, legt wenig Wert auf Geld oder Macht, die nur als Ersatzmittel für fehlendes inneres Vertrauen dienen. Stattdessen schätzt er die geheimnisvolle Kraft in sich selbst, die ihn leben und wachsen lässt. Dieser wahre Eigensinn führt zu einem Leben, das reich an innerer Erfüllung und Freiheit ist, jenseits der von Menschen geschaffenen Regeln und Erwartungen.

Übung:

Stellen Sie fest, über wie viel Eigensinn Sie verfügen. Konstruieren Sie dazu anhand folgender Fragen Ihr persönliches Horrorszenario sowie Ihren persönlichen Glücksfall. Vergleichen Sie beides und überlegen Sie, wo auf der Skala zwischen Himmel und Hölle sich Ihr Leben gerade abspielt.

Wenn Sie Ihre persönliche Horror-Geschichte vervollständigt haben, lesen Sie sie noch einmal durch und erspüren Sie die Stimmung. Achten Sie gut auf Ihr Befinden! Ist er nicht grauenhaft, dieser Cocktail aus Wut, Verzweiflung, Angst, Hoffnungslosigkeit und Unbehagen? Sie würden am liebsten aus der Haut fahren, aber es fehlt Ihnen die Kraft dazu? So fühlt es sich an, wenn Ihr innerer Kompass: „NEIN!“ schreit. Und so sollten Sie sich eigentlich niemals fühlen.

Nun, wie fühlt sich diese Version an? Lesen Sie Ihren persönlichen Glücksfall noch einmal durch und lassen Sie sich in die Stimmung hinein fallen. Sie haben einen tiefen, befreienden Seufzer gemacht? Ihr Körper ist entspannt wie ein Kartoffelsack? Sie haben ein Lächeln im Gesicht? Ja, so ist es, wenn Ihr innerer Kompass sagt: „Da ist es schön. Da will ich hin.“

Zu schön, um wahr zu sein? Natürlich, da haben Sie völlig recht. In genau dieser Szene werden Sie vermutlich nie ankommen. Aber sie gibt Ihnen die Richtung an, den Kurs, den Sie nehmen müssen. Und wenn Sie diesen einschlagen, wird der Weg zum Ziel.

Eigensinn, als die Tugend des Gehorsams gegenüber dem eigenen inneren Gesetz, bietet eine tiefgreifende Alternative zu den konventionellen Tugenden der Gesellschaft. Er fordert Mut und Vertrauen in sich selbst und öffnet den Weg zu einem authentischen und erfüllten Leben. In einer Gesellschaft, in der Anpassung und Unterordnung gefordert wird, bleibt der Eigensinn eine stille, aber kraftvolle Erinnerung an die Bedeutung der inneren Stimme und des eigenen Weges.

Literatur:

Beck, M. (2001). Finding your own North Star: Claiming the life you were meant to live. Crown.

Iven, Ulrike. Hermann Hesse: Eigensinn. Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2013. https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/143_iven.pdf.

Streubel, A. (2004). Die Lebenswerkstatt. Handwerkszeug für ein gutes Leben. Eigenverlag.