Alle Jahre wieder: Zu Allerheiligen, Allerseelen, dem Buß- und Bettag, Totensonntag und Volkstrauertag gehen Menschen zu den Gräbern, um ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken, zünden Kerzen an und legen Kränze nieder. Mit dem Herbst scheint eine Zeit des öffentlichen Trauerns um Verstorbene zu beginnen.
Dieses Erinnern an die Verstorbenen gibt Raum für das Gedenken an Vergangenes. Es ist eine besondere Gelegenheit, die Verbindung zwischen der Vergangenheit und dem Leben heutiger Generationen zu erkunden: die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen und Prägungen. Für viele kann die Vorstellung, dass „die Toten in uns weiterleben“, sowohl Trost als auch Unbehagen auslösen. Schließlich zeigt die psychologische Forschung, dass unverarbeitete Gefühle und ungelöste Konflikte der Vorfahren sich auf das emotionale Erleben und die psychische Gesundheit späterer Generationen auswirken können.
Die unsichtbaren Lasten unserer Ahnen
Der Volksmund spricht oft davon, dass jeder „sein Päckchen zu tragen“ hat, doch in vielen Fällen umfassen diese Lasten nicht nur individuelle Erlebnisse, sondern auch die Prägungen, die durch die Erfahrungen und Traumata früherer Generationen beeinflusst sind. Studien der Neurowissenschaft und Epigenetik haben gezeigt, dass emotionale und traumatische Erfahrungen, die nicht verarbeitet oder aufgelöst werden konnten, auf nachfolgende Generationen wirken und sogar das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen können. Menschen, deren Vorfahren Krieg, Verlust oder andere traumatische Ereignisse erlebten, zeigen oft Symptome, die sich auf den ersten Blick nicht leicht erklären lassen: Angststörungen, Suchtverhalten, Depressionen, Essstörungen, Zwänge.
Die Epigenetik erklärt diese Übertragungsmechanismen, indem sie aufzeigt, wie Erlebnisse biochemische Veränderungen hervorrufen, die an die nächste Generation weitergegeben werden können. Diese Veränderungen betreffen Gene und beeinflussen deren Aktivität, ohne die eigentliche DNA-Sequenz zu verändern. So werden die Spuren des Erlebten weitergetragen, und traumatische Erfahrungen können auf nachfolgende Generationen „übergehen“.
Der Treuevertrag – Eine emotionale Bindung an das Leid der Vorfahren
Die Prägungen, die wir aus der Vergangenheit mit uns tragen, geschehen oft unbewusst und folgen einem sogenannten „Treuevertrag“: Kinder fühlen sich intuitiv verantwortlich, die Schwächen und Defizite der Eltern auszugleichen. Dies ist vor allem in Fällen sichtbar, in denen sich Eltern selbst aufgrund früherer Erlebnisse oder emotionaler Verletzungen nicht vollständig entfalten konnten. Kinder passen sich an und versuchen, das Familiensystem zu stabilisieren, indem sie ihre eigene Entwicklung zurückstellen oder bestimmte, oft fremde Verhaltensmuster übernehmen. Ein Kind könnte zum Beispiel seine Unabhängigkeitsbedürfnisse verbergen, um die ängstliche Mutter nicht zu belasten, oder es entwickelt selbst Schutzmechanismen gegen das Trauma der Vorfahren.
Dieser Treuevertrag stellt zwar eine Überlebensstrategie dar, doch langfristig kann er die eigene Entwicklung und das seelische Wohlbefinden beeinträchtigen. Da das Kind unbewusst versucht, den „Geistern der Ahnen“ zu dienen, fällt es ihm schwer, seine eigenen Bedürfnisse und Potenziale zu leben. Ohne bewusste Aufarbeitung bleibt das alte Leid präsent und kann ungehindert auf die nächsten Generationen übertragen werden.
Die Sinnhaftigkeit der transgenerationalen Weitergabe – Überlebensstrategien und unvollendete Geschichten
Viele fragen sich, ob es überhaupt sinnvoll ist, dass diese Leidensspuren über Generationen hinweg weitergegeben werden. Ein Denkansatz ist, dass die Natur uns mit der Fähigkeit ausgestattet hat, nicht nur hilfreiche Überlebensstrategien weiterzugeben, sondern auch die unvollendeten Kapitel der Vergangenheit zur Bearbeitung „wiederzubeleben“. Was in einer Generation aus Mangel an Möglichkeiten nicht gelöst werden konnte, kann durch diese Weitergabe erneut ins Bewusstsein rücken und in einem neuen Kontext bearbeitet werden. Solche Verhaltensmuster, wenn sie entdeckt und verstanden werden, bieten die Chance, alte Wunden zu heilen, indem das Erlebte in die persönliche Geschichte integriert wird. Nur so kann das Leben, das einst blockiert wurde, in gewisser Weise zu einem Abschluss kommen und den Weg für eine gesunde Entwicklung freimachen.
Die Rolle der Psychotherapie – Die Wunden der Vergangenheit auflösen
In der psychotherapeutischen Arbeit kann das Aufdecken der „Generationenspuren“ ein zentraler Ansatz sein, um tiefsitzende Symptome und Verhaltensmuster zu verstehen und zu heilen. Symptome, die als „unpassend“ zur Lebensgeschichte des Patienten erscheinen, ergeben oft erst im Kontext der Familiengeschichte Sinn. So können beispielsweise Herzprobleme oder eine Angststörung einer Person auf den ungelösten Schmerz der Großmutter zurückzuführen sein, die ihren Sohn oder Ehemann im Krieg verlor. Durch gezielte Fragen und das achtsame Aufarbeiten der Familiengeschichte können Therapeutinnen und Therapeuten helfen, die treuen Bindungen an die Ahnen zu erkennen, loszulassen und damit die Entwicklung des Einzelnen freizugeben.
Fragen, die dabei helfen können:
- Zu welchen Vorfahren hätten diese Symptome auch gepasst?
- Gibt es ein Tabu in dieser Familie?
- Was wird verschwiegen und weshalb? Ist die Wahrheit zu schmerzhaft, schambesetzt und wird sie deshalb verdrängt?
- Gibt es Täter in den vergangenen Generationen? Müssen diese Taten aus Loyalität verleugnet werden, um die Täter zu schützen?
Ingrid Alexander und Kollegentwickelten bereits 1994 den Generation-Code®, ein Konzept, das die Betrachtung mehrerer Generationen nutzt, um die Entstehung von Familienwunden zu entschlüsseln und zur Auflösung beizutragen. Der Ansatz verdeutlicht, dass nur durch das Lösen dieser Treueverträge und das Aufgeben der unsichtbaren Lasten eigene Potenziale freigesetzt und eine individuelle Entwicklung vollzogen werden kann. So kann das innere Kind des Patienten die Bindung an das Leid der Eltern und Vorfahren loslassen und Raum für neue, positivere Zukunftsvisionen schaffen.
Abschied von der Vergangenheit – Neue Wege finden
Wenn es gelingt, den Schmerz vergangener Generationen loszulassen, wird der Zugang zur eigenen Geschichte freier und lebendiger. Die Möglichkeit, an die Ahnen zu „denken“ und deren Potentiale zu würdigen, besteht weiterhin auf einer imaginären Ebene, doch die einst verhärteten Familienmuster können weichen. So wird es möglich, in neue Zukunftsperspektiven zu blicken, die nicht länger von den Schatten der Vergangenheit geprägt sind.
Übung: Flaschenpost aus der Vergangenheit
Jeder von uns hat unsichtbare Bindungen zu seinen Vorfahren. Nicht immer sind wir uns dessen bewusst, aber wenn wir uns auf die spannende Reise zu unseren Vorfahren begeben, können wir unserer Treue zu unseren Vorfahren begegnen.
Die Übung stammt aus dem Kartenset »Transgenerationale Therapie. 75 Therapiekarten« und ist ein guter Einstieg, das eigene unbewusste Wissen über Ahnen zu aktivieren.
Stellen Sie sich vor, Sie stünden an einem Gewässer – am Meer, am Fluss, an einem See … Sie entdecken eine Flaschenpost und finden heraus, dass diese vor vielen Jahren von einem Ihrer Vorfahren an Sie adressiert wurde und nun bei Ihnen angekommen ist. Öffnen Sie in Ihrer Vorstellung diese Flaschenpost und lesen Sie, was darin geschrieben steht.
- Wer schreibt Ihnen?
- Lebt diese Person noch?
- Was will er/sie Ihnen unbedingt mitteilen?
- Einen Ratschlag oder ein Geheimnis?
- Wie alt war diese Person beim Verfassen der Nachricht?
- Haben Sie diesen Ahnen persönlich gekannt?
- Wie war/ist Ihr Verhältnis zu ihr/ihm?
Auf diese Weise lassen sich unkonventionell neue Eindrücke über die eigenen Ahnen sammeln. Vielleicht werden Sie überrascht sein, wie viel unbewusstes Wissen wir über die Mitglieder unserer Familie in uns tragen, auch wenn wir sie nie persönlich kennengelernt haben. Wenn der Verfasser der Flaschenpost noch lebt, bietet sich natürlich auch ein persönliches Gespräch an für vertiefende Fragen.
Eine Frage, die wir uns unbedingt stellen sollten:
Eines Tages werden auch wir „Ahnen“ der nachfolgenden Generationen sein. Mit welchen unerledigten Aufgaben werden vielleicht unsere Nachfahren konfrontiert sein? Gibt es etwas, dass wir zu Lebzeiten noch ordnen sollten?
Die Gedenktage für die Toten können uns daher auch eine symbolische Brücke sein: Sie laden uns ein, nicht nur die Verstorbenen zu ehren, sondern auch unser Verständnis der eigenen Geschichte zu erweitern und die unsichtbaren, familiären Bindungen der Vergangenheit mit bewusstem, heilsamem Blick zu lösen. Auf diese Weise lässt sich ein neues, unbeschwertes Kapitel schreiben – und die „Geister der Vergangenheit“ können endlich ruhen.
Filmtipp:
ZDF. (2023, 15. September). Ein Trauma erben – geht das? [Dokumentation]. Terra Xplore. Abgerufen am 31. Oktober 2024, von https://www.zdf.de/dokumentation/terra-xplore/ein-trauma-erben–geht-das-100.html
Literatur:
Moré, A. (2011). Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen an nachfolgende Generationen. Journal für Psychologie, 19(1). Abgerufen am 31. Oktober 2024, von https://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/268/310